Wissen heißt die Welt verstehen. Wissen lehrt, verrauschter Zeiten Und der Stunde, die da flattert, Wunderliche Zeichen deuten. Und da sich die neuen Tage Aus dem Schutt der alten bauen, Kann ein ungetrübtes Auge, Rückwärtsblickend vorwärtsschauen. F.W. Weber, Dreizehnlinden
 Wissen heißt die Welt verstehen.Wissen lehrt, verrauschter ZeitenUnd der Stunde, die da flattert,Wunderliche Zeichen deuten.Und da sich die neuen TageAus dem Schutt der alten bauen,Kann ein ungetrübtes Auge,Rückwärtsblickend vorwärtsschauen.               F.W. Weber, Dreizehnlinden

Zum Leitlinien-Entwurf des Kreisentwicklungsplans Westerwald

Mehrfach bin ich darauf angesprochen worden, dass ich zu "textlastig" bin. Deshalb stelle ich eine "Kurzversion" in 15 Punkten der Langversion meiner Ausführungen voran:

 

1. Bis zum 31.12.2016 hat jeder Westerwälder die Chance, für die Gestaltung der Zukunft seiner Heimat im Kreisentwicklungskonzept seine Stimme zu erheben (siehe Homepage der Kreisverwaltung).

 

2. Das Kreisentwicklungskonzept ist ein von verschiedenen Interessenträgern aus Politik und Wirtschaft initiiertes Projekt.

 

3. Der Leitlinienentwurf des Kreisentwicklungskonzeptes wurde von Vertretern des Kreistages und der Verwaltung verfasst, deren Namen nicht öffentlich genannt sind.

 

4. Der Leitlinienentwurf des Kreisentwicklungskonzeptes strebt eine umfassende Kreis-, Innen-, Außen-, Neu-, Weiter-, Siedlungs- und Eigenentwicklung an.

 

5. "Entwicklung" suggeriert, dass es quasi eine naturgesetzliche Veränderung zu einem angeblich besseren Endzustand gäbe.

 

6. Das Kreisentwicklungskonzept ist kein gesetzlich vorgeschriebenes Planungsformat, sondern politischer Handlungsrahmen all jener, die daran mitwirken.

 

7. Der Leitlinienentwurf des Kreisentwicklungskonzeptes steckt dazu zehn Handlungsfelder ab.

 

8. Der vorliegende Leitlinienentwurf klingt auch in mehreren jener Teile durchkommerzialisiert, die nicht das Thema Wirtschaft ansprechen.

 

9. "Wachstum" verankert der Leitlinienentwurf in allen Richtungen: Straßenbau, Trassenbau, Siedlungsausbau, Wirtschaftsausbau.

 

10. Negativeffekte dieses Wachstums werden nicht genannt.

 

11. Zur angestrebten "Gleichwertigkeit" aller Teilräume des Westerwaldes gehört auch, dass Negativeffekte vermieden oder abgebaut werden.

 

12. Einzige Einschränkung des Wachstums enthält das Thema Natur.

 

13. Der Leitlinienentwurf setzt Ziele fest, die sich gegenseitig ausschließen.

 

14. Die immateriellen, gemeinschaftsstiftenden Formen des Wohlstandes sind nicht in den Blick genommen.

 

15. Der Leitlinienentwurf des Kreisentwicklungskonzeptes sollte ein sinnstiftendes, maßvolles, auf die menschlichen Grundbedürfnisse nach einer intakten, natürlichen und gesunden Lebensumwelt zugeschnittenes Konzept erhalten!

 

 

 

Am 04.10.2016 meldete die Westerwälder Zeitung in ihrem Regionalteil, dass Landrat Schwickert alle Bürger, Vereine und Organisationen dazu aufruft, sich an dem Leitlinienentwurf für die zukünftige Entwicklung des Westerwaldkreises zu beteiligen. Dem Leitungs- und Kompetenzteam, das mit diesem Entwurf viele positive Impulse aufgenommen und eine Menge Vorarbeit geleistet hat, sei an dieser Stelle ausdrücklich gedankt - auch für die Möglichkeit, sich mit eigenen Beiträgen, Stellungnahmen und Gedanken an der Gestaltung der Zukunft unseres Westerwaldes beteiligen zu können.

 

Nach diesem Leitlinienkonzept ist der Westerwald ein ausgesprochenes Entwicklungsland. Es wird eine umfassende Kreis-, Innen-, Außen-, Neu-, Weiter-, Siedlungs- und Eigenentwicklung angestrebt.

 

Laut der Internet-Enzyklopädie "Wikipedia" ist ein "Entwicklungsland" ein Land, bei dem die Mehrheit seiner Bewohner hinsichtlich der wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen einen messbar niedrigeren Lebensstandard hat.

 

Es ist klar, dass man im Westerwald davon nicht sprechen kann. Warum also "Entwicklung"?

 

"Entwicklung" gilt als ein "Kernkonzept der modernen Welt, das quasi eine naturgesetzliche Veränderung zu einem angeblich besseren Endzustand suggeriere" (vgl. Wikipedia, Artikel "Entwicklungsland"). Das darf aber mit Recht bezweifelt werden.

 

Man kann also schließen, dass "Entwicklung" den Gedanken beinhaltet, dass irgendetwas verbesserungsbedürftig ist. Verbesserungsbedürftig ist alles, mit dessen Zustand man nicht zufrieden ist.

 

Aus welcher Richtung kommt aber dann der Ruf nach einem Kreisentwicklungskonzept? Haben wir doch bereits fünf gesetzliche Planungsebenen in Deutschland (EU, Bund, Land, Region und Gemeinde), die Einfluss auf die Entwicklung vor Ort nehmen?

 

Welche Institutionen ziehen einen Nutzen daraus, dass der politische Handlungsrahmen eines Landkreises abgesteckt wird? Denn das Kreisentwicklungskonzept ist weniger ein gesetzlich vorgegebenes planerisches Mittel, als ein politisches Programm (vgl. Vermerk "Kreisentwicklung" des Landkreistags RLP vom 26.08.2010, Az: 000-730 He/bö).

 

Den vehementen Anstoß zu diesem Projekt gab im April 2014 die Industrie- und Handelskammer durch ihre regionale Vertretung, die Geschäftsstelle in Montabaur, die ein sogenanntes Positionspapier "Westerwaldkreis 2020" herausbrachte (s. Westerwälder Zeitung vom 20.11.2014, Artikel "Zukunft: Kompetenzteam bereitet Kreisentwicklung vor").

Es genügte also der IHK offenbar nicht, nur in den genannten Planungsebenen (z. B. regional in der Planungsgemeinschaft Mittelrhein-Westerwald) als berufenes Mitglied ihren Einfluss geltend zu machen.

 

Und obwohl in diesem IHK-Positionspapier schon festgestellt wurde, dass der Westerwaldkreis zu den wirtschaftsstärksten Landkreisen in Rheinland-Pfalz gehört und seit dem Jahr 1996 Produktivität, Gesamtumsatz, Auslandsumsatz und Exportquote im verarbeitenden Gewerbe der Region - auch während konjunktureller Schwächephasen - kontinuierlich steigen, liegt es in der Natur der Sache, dass der Ruf der Wirtschaftsverbände nach einer stetig wachsenden Bevorteilung ihrer Interessen, z. B. an Verfahrensbeschleunigung, besserer Kooperation mit den Behörden und schnellerer und weiterer Standorterschließungen nicht verstummt.

 

Zwar macht das IHK-Positionspapier eine galante Verbeugung vor "Tradition, Naturschönheit und Beschaulichkeit" des Westerwaldes, packt diese Werte aber zugleich in ihr System wirtschaftlicher Nützlichkeitserwägungen und den angeblichen Zwang, sich auf einen "zunehmenden europäischen Wettbewerb der Regionen" einzulassen. Schon das Schlüsselwort "Standort", also die räumliche Einheit, in der sich Gewerbe und Industrie materialisieren, kommt im IHK-Positionspapier in 21 Variationen vor, das Thema "Naturschutz" hingegen nur einmal, und zwar im Zusammenhang mit der Bemerkung "zu streng" und "zu überzogen".

 

Der Appell der Wirtschaft nach einem Kreisentwicklungskonzept wurde denn auch bereitwillig aufgenommen. So wurde im November 2014 vom Kreisausschuss ein anonymes "Kompetenz- und Leitungsteam" aus Kreistags- und Verwaltungsabgeordneten damit beauftragt, die Leitlinien der Kreisentwicklung vorzubereiten. Schon damals forderte Tanja Machalet (SPD), dass konkret die IHK und die Handwerkskammer mit ins Boot geholt werden sollten (siehe Westerwälder Zeitung vom 20.11.2014).

 

Auch wenn das, allem Anschein nach, nicht realisiert wurde, klingt der nun vorliegende Leitlinienentwurf völlig durchkommerzialisiert, selbst in jenen Teilen, die das Thema "Wirtschaft" gar nicht ansprechen, z. B. Siedlung, Bildung und Umwelt. Es wimmelt nur so von Begriffen wie Wertschöpfung, Inwertsetzung, Standortvorteile, Standortsicherung, Standortmarketing, Bedarfsorientierung, Wettbewerb, Effizienz, Wachstumsimpulse, Angebot und Vermarktung.

 

Wachstum verankert der Leitlinienentwurf in allen Richtungen: im Straßenbau, im Siedlungsausbau, im Trassenausbau, im Wirtschaftsausbau. Immerhin, beim Thema Siedlungsentwicklung fällt auch das Wort "Entwicklungsgrenze", denn eine Siedlungsentwicklung kann ja flächenbedingt an ihre natürliche Grenze kommen. Aber auch das ist weiter kein Problem für die anonymen Leitlinienentwerfer, denn dann können andere "geeignete Gemeinden" die Siedlungsentwicklung des Gewerbe-, Straßen- und Wohnungsbaus, hier "Funktionsausweitungen" genannt, weiterentwickeln.

 

Die einzige Einschränkung der allseitigen Entwicklung im Leitlinienentwurf enthält das Thema Natur. Die ist nämlich nur da zu entwickeln, wo sie sinnvoll ist.

 

Es ist rätselhaft, wie bei all dieser Wachstums-Entwicklungseuphorie die Quadratur des Kreises gelingen soll. Den Westerwald will man gern so ursprünglich und natürlich wie möglich erhalten (vgl. Unterpunkt "Natur und Umwelt"), möchte ihn aber zugleich noch weiter wirtschaftlich, touristisch, siedlungsmäßig und infrastrukturell erschließen, und zwar in allen Teilräumen gleichwertig.

Ein neuralgischer Punkt dabei, der nur oberflächlich angesprochen wurde, ist u. a. der Anspruch der rohstoffabbauenden Industrie, der gerade im Unterwesterwald enorme Auswüchse annimmt. Ihre Vorbehalts- und Vorranggebiete hebeln den Bedarf an Grünzäsuren in dieser verdichteten Region auf Jahrhunderte geradezu aus und verwandeln eigentümlich gewachsene Landschaften, ganze erdgeschichtliche Zeitalter und das Bodenarchiv buchstäblich zu Staub - für Dubai und Timbuktu.

 

Wie kann man unter diesen Aspekten noch davon sprechen, dass die "Wachstumsimpulse sowohl im Nahbereich, als auch regional ... verstärkt werden sollen"? Ohne dies zu benennen, scheint der Leitlinienentwurf hier eine hinterfragbare, materielle Vorstellung über den Begriff "Wohlstand" vorauszusetzen und formuliert von dort aus seine Ziele.

 

Gerade in der Unterwesterwald-Region entlang der großen und eng beieinander liegenden Verkehrsadern A 3, A 48 und ICE-Hochgeschwindigkeitstrasse sind die Negativeffekte entfesselter "Wachstumsimpulse" stark zu spüren. Die Zunahme der Umweltbelastungen und der Verbrauch der Ressourcen sind hier besonders gravierend. Allein in unmittelbarer Nachbarschaft zum eigenen Wohnort werden in den nächsten zehn Jahren mehr als 18 Infrastruktur-, Siedlungs- und Gewerbeprojekte verwirklicht mit einem Flächenvolumen von mehr als 114 ha. Dazu kommen zunehmender Lärm, zunehmende Verkehrsdichte, zunehmende Luftverschmutzung, Zersiedelung und Versiegelung der Landschaft, Binnenwanderung, Ethnisierung von Wohnbezirken, Zunahme des horizontalen Gewerbes, Zunahme illegaler Abfallentsorgungen, Vermehrung der Einbruchsdelikte, Anwachsen der Infrastrukturkosten, Schadstoffbelastungen der Gewässer, Artenrückgang, Verunreinigungen der Straßen, Wegränder, Wälder und Wiesen, zunehmender Freizeitdruck und Nutzungskonflikte bezüglich der "offenen" Flächen, fortschreitende Begrenzung von Bereichen der Stille und Erholung usw.

So nimmt nicht wunder, dass sich mittlerweile zunehmend Bedenken der Bürger auf kommunaler Ebene regen, die aber im "freien Spiel der Kräfte" kaum eine Chance gegen die großen Interessenverbände oder Parteien haben.

 

Deshalb sollten die Leitlinienentwerfer, die natürlich auch viel Beherzigenswertes auf den Gebieten der Bildung und der sozialen Lebensbedingungen für Jugend und Alter in den Entwurf aufgenommen haben, auch bedenken:

 

Der Westerwald ist mehr als eine "Dachmarke" (siehe Leitlinienentwurf, Unterpunkt "Kooperation"), die es zu positionieren und kommerziell zu vermarkten gilt. Er ist mehr als ein wirtschaftliches, touristisches, infrastrukturelles und gewerbliches Erschließungsgebiet.

 

Der Westerwald ist Heimat und Lebensraum für Menschen, die sich mit ihm identifizieren, ihn schätzen und seine Unverwechselbarkeit bewahren und pflegen wollen.

 

Seine typischen Siedlungen, der Zungenschlag seiner Einwohner, ihr Brauchtum, seine denkmalwerten charakteristischen Landschaften, seine traditionellen und regionalen Wirtschaftsweisen sind keine austauschbare Dekoration, sondern Erinnerung und Erbe, die nur vorübergehend geliehen und an die nächste Generation weitergereicht werden müssen.

 

Das ist die Basis, um Kräfte in der Region zu halten und mit den Bürgerinnen und Bürgern eine gemeinschaftsstiftende Identität zu schaffen, damit der Westerwald in eine Zukunft geführt wird, die unseren Kindern die beste Grundlage der Entfaltung und Gestaltung ihrer Lebensumwelt gibt.

 

Der Leitlinienentwurf bietet eine Fülle von Vorschlägen zur Gestaltung der Zukunft des Westerwaldes. Er sollte nicht nur ein unreflektiert auf Wachstum getrimmtes Propagandapapier sein. Jeder Westerwälder sollte hier seine Stimme laut werden lassen, nicht nur Parteien oder ein großer Wirtschaftsverband. Der jedenfalls nimmt seine Interessen so ernst, dass er seine Mitglieder zu diesem Thema nicht nur per Newsletter zum Einsatz in eigener Sache mobilisiert, sondern jeden einzelnen persönlich anschreibt!

 

Es ist zu wünschen, dass die Westerwälder sich an diesem Leitlinienentwurf umfassend beteiligen, und ihm ein sinnstiftendes, maßvolles, auf die menschlichen Grundbedürfnisse nach einer intakten, natürlichen und gesunden Lebensumwelt zugeschnittenes Konzept geben.

 

 

 

 

 

 

 

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© Petra Buhr